1984 Benvenuti in Venezia
Herzlich Willkommen in Venedig

Tagebuch einer Chorfahrt von WolfRüdiger Ohlhoff


Auch zwischen der Hansestadt Lübeck und Venedig bestehen seit vielen Jahren enge, freundschaftliche Bindungen, die sich in regem Kulturaustausch, gegenseitigem Besuchen von Vereinen und Schüleraustausch dokumentieren. Hatte der Passat Chor schon in den vergangenen Jahren als musikalischer Sendbote der Hansestadt Lübeck in den Paten und Freundschaftsstädten Kotka (Finnland) und La Rochelle (Frankreich) seine Visitenkarte abgegeben, so stand in diesem Jahr der Besuch Venedigs als Höhepunkt des Reise und Konzertprogramms auf dem umfangreichen Kalender des Chores.

Ein Jahr hatten die umfangreichen Vorarbeiten in Anspruch genommen, um wieder ein interessantes und abwechslungsreiches Programm für die 40 Fahrtteilnehmer zu bieten. Wie auch schon bei der La RochelleFahrt hatte Hauskomponist und Arrangeur Heiko Fenn tief in seine Notenkiste gegriffen und mit den Arrangements von »Funiculi, Funicula«, dem »ChiantiLied« und dem Welterfolg »Santa Lucia« wieder drei dem Passat Chor auf den Leib geschneiderte Songs mit Lokalkolorit beigesteuert. Der Meister selbst am EBass, PeterHans Ceranik und Werner Fick an den Akkordeons, Wolfgang Schütt und Ralf Becker mit ihren Gitarren, Peter Lohrisch auf der Mundharmonika, Heinz Joachim Seidel an den Congas, Oskar von der Sonnenau als bewährte »Pfeife« und last not least musikalischgeistiger Inspirator und Leiter ErnstGünter Hinz sorgten für eine vorzügliche instrumentale Grundlage für den musikalischen Erfolg der Fahrt. Wie auch in den vergangenen Jahren drohten in der Vorbereitungsphase die enorm hohen Reisekosten die Fahrt scheitern zu lassen, aber ein Reisekostenzuschuß aus der Schatulle der Hansestadt, der von den Sängern getragener Kostenbeitrag sowie eine durch äußerst rege Konzerttätigkeit verdiente Finanzspritze aus dem Säckel des Chorschatzmeisters schufen ein gesundes finanzielles Polster. Dank sei an dieser Stelle der Associazione Culturale ItaloTedesca Venezia mit Nevia Pizzul an der Spitze und dem Hamburger Kaufmann Giovanni Galeazzi gesagt, die sich in rührender und umsichtiger Weise um die Vorbereitung und Durchführung der Reise gekümmert haben und ohne deren Hilfe die Chorfahrt niemals zu einem so großen Erfolg hätte werden können. Dank aber auch an den »Hauschauffeur« des „Passat Chores“ Herrn Stahl und selbstverständlich auch last not least an die Mitglieder des Chores, die mit ihrem Gemeinschaftssinn, ihren Vorzügen und Macken, ihren Albernheiten und Späßen, aber auch mit Konzentration und Engagement bei den Konzerten die Grundlage für eine unvergeßliche Chorreise schufen.



Sonnabend, 26. 5. 1984


Zu nachtschlafender und, wie eine Sängerfrau bemerkt, »unverschämter« Zeit startet der vollbesetzte LVGBus um 3.30 Uhr auf dem Marktplatz in Travemünde. Um 4 Uhr Zustieg der Lübecker Fahrtteilnehmer am ZOB; herzzerreißende Abschiedsszenen, einige zerdrückte Tränen und Aufforderungen, sich gut zu benehmen und heil nach Hause zurückzukehren. Geruhsame, Schlaf nachholende Fahrt mit dem 4Sterne Luxusgefährt, erste Ausgabe von Peter Stürholds wunderbar vorbereiteten belegten Brötchen. Der Beginn der Fahrt läßt sich gut an . . .

Um 11.15 Uhr Ankunft in Bonn auf dem Marktplatz. Gelungenes Konzert vor Hunderten von Zuhörern im Rahmen der Präsentation des Kreises Ostholstein in der Bundeshauptstadt. Im Anschluß daran Empfang durch den Bonner Oberbürgermeister im historischen Rathaus, Verleihung der KlabautermannWürde an das Bonner Oberhaupt und Auszeichnung von "Oskar" mit dem offiziellen Bonner Tuch anläßlich seines 85. Geburtstages (der wievielte mag es wohl schon gewesen sein?)

Nach einem kärglichen Mittagessen (die zugesagte Erbsensuppe und belegten Brote erweisen sich als Diätmahlzeit) geht die Fahrt am Rhein entlang zum Städtchen Limburg, das durch die Frau Wirtin von der Lahn und seine hübsche Altstadt mit dem Dom hoch über der Stadt unauslöschlichen Ruhm erworben hat. Nach einer unmenschlichen harten Probe für die italienischen Lieder (wie Otto sagte, soll Sklaventreiber Ernesto Hinz in seinem Element gewesen sein) geht es zu der ansonsten für den Chor undenkbar frühen Zeit von 23.00 Uhr in die »Falle«.


Sonntag, 27. 5. 1984


Nach sehr gutem, reichlichem Frühstück und einer erstaunlich ruhigen Nacht (die Helden waren zu müde) geht die Fahrt dann weiter in Richtung Metropole des Bayernlandes. Gegen 17 Uhr Erreichen der Peripherie Münchens mit Passieren des architektonisch kühn anmutenden OlympiaGeländes und seinen futuristisch aussehenden Bauten. Unterbringung im feudalen Hotel König, direkt im Herzen Münchens. Leider ist uns das Wetter nicht so hold. Nach erfolgversprechendem Start in Bonn mit Sonnenschein nun Temperaturen von 8 10 Grad Maximum mit kaltem Wind und Regenschauern.

Nach einem typisch bayerischen Abendessen mit PfannkuchenSuppe, Kalbshaxe und Obaxtem (angemachtem Käse) begibt der Chor sich dann zum obligaten Besuch des Hofbräuhauses zu Fuß durch die Münchener Innenstadt. Im Hofbräuhaus empfängt uns schon mit den Klängen einer lustigen »Blasmusik« typische Hofbräuhaus Atmosphäre. Und bei traditionell schlecht geschenktem Bier, Weißwürsteln, Laugenbrezeln und Radi kommen die steifen Norddeutschen langsam in Fahrt.

Als dann Alphornbläser, Peitschenknaller und Almjodler so richtig schöne bayerische Stimmung verbreiten, geraten die Recken des Chores in Fahrt. Und als dann auch noch eine Trachtenkapelle zum Tanz aufspielt und die "Eintänzer" aus Norddeutschland mit den Gästen (Damen aus aller Herren Länder) schuhplattlernd auf dem Tanzboden »herumjuchten«, ist die blauweiße Welt wieder in Ordnung. Da der Zapfenstreich für diesen Abend aufgehoben ist, sollen einige Fahrtteilnehmer erst »kurz« nach Mitternacht im Hotel aufgetaucht sein, um sich kurz vor der Abfahrt nach Italien frisch zu machen. Gegen 1 Uhr lautes Lärmen des 2. Tenores vor dem Hotel auf der Straße, als man sich bei nächtlicher Kühle im Schlafanzug und Nachthemd vor dem Hotel für ein Erinnerungsfoto in Positur stellt.



Montag, 28. 5. 1984


Nächstes Fahrtziel ist Pieve di Cadore in den Dolomiten, wo wir von dem ortsansässigen Bergsteigerchor zu einem gemeinsamen Konzert erwartet werden. Leider ist uns der Wettergott bei der Weiterfahrt nicht sehr hold. Aber bei einem Zwischenstop in Mittenwald geht es noch und bei aufkommendem Regenwetter wird schnell das GeigenbauMuseum mit seinen vielen wertvollen Geigen in Rekordzeit besichtigt.

Bei kühlem, regnerischen Wetter wird dann das Sonnenland Italien via Brennerpaß erreicht. Leichter Schneeregen setzt ein, und so ist von den Bergriesen der Dolomiten leider nicht sehr viel zu sehen. Über Bruneck, Cortina d'Ampezza erreichen wir mit etwas Verspätung das malerisch im CaldoreTal gelegene Dorf Pieve di Cadore. Am Ortseingang erwartet uns schon Herr Giovanni Galeazzi. Da unser Terminplan durch die Verspätung etwas in Verzug geraten ist, statten wir erst dem Herrn Bürgermeister einen Höflichkeitsbesuch in seinem historischen Rathaus ab. Hier erste Begegnung mit herrlichem italienischen SoaveWein und Austausch von Gastgeschenken.

Nach einem kurzen Stadtrundgang bei strömendem Regen (Besichtigung des Geburtshauses des weltberühmten Malers Tizian er wurde hier anno 1477 geboren und wurde zum bekanntesten Maler der venezianischen Hochrenaissance und seiner grandiosen Werke in der pittoresken kleinen Kirchen des Dorfes) wird Quartier in einem oberhalb des Dorfes gelegenen Gasthofes genommen.

Nach dem Abendessen erste Begegnung mit dem für diese Region Italiens berühmten Schnaps, dem Grappa der nach 3 4 Gläschen schon gar nicht mehr so schlecht mundet, aber am nächsten Morgen eine ganz schöne »Dröhnung« verursacht.

Aufbruch zum gemeinsamen Konzert mit dem Bergsteigerchor »Coro die Cadore«, den man zum ersten Mal bei einem Konzert in der Lübecker Katharinenkirche kennen gelernt hat. Das Konzert in dem prächtig ausgestatteten Sitzungssaal des Rathauses aus dem frühen Mittelalter beginnt um die für uns ungewohnte Zeit von 21.00 Uhr. Im ersten Teil des Konzertes trägt der Coro di Cadore sein Programm vor: sehr schöne, wohlklingende Liedsätze mit dem für diese Region Italiens typischen Chorklang: leicht plärrenden, sehr hoher Stimmen und überraschend für uns, die zum größten Teil sehr melancholische Stimmung, nichts von dem sonst so überschäumenden, italienischen Temperament.

Das wird dann im zweiten Teil nach der Pause anders; die italienischen Zuhörer und Sänger sind erstaunt von dem frischen, animierenden Gesang des Passat Chores und gehen begeistert mit. Vor allem die drei italienischen »Schmankerl«, von Heiko arrangiert, finden den enthusiastischen Beifall des Publikums und werden, vor allem »Santa Lucia«, aus voller Brust mitgesungen. Durch die italienische Conference unseres »Wum« und durch die sich dem Publikum mitteilende Intensität des Chores wird das Konzert zu einem großen Erfolg. Die Im Anschluß an das Konzert verteilten Marzipanherzen und LübeckProspekte tragen ihr übriges zum Gelingen dieses völkerverbindenden Abends bei.



Dienstag, 29. 5. 1984


Im Anschluß an das Frühstück warten schon der Bus und der italienische Reiseleiter zum Ausflug in die Dolomiten. Selbst der Wettergott hat ein Einsehen und verschont uns für den wichtigsten Teil der Fahrt, der Auffahrt in 2500 m Höhe, vor Schnee und Regenschauern. Staunend gehen die Blicke der Sänger in die Runde: zackige, zerklüftete Bergriesen mit in der Sonne glänzenden Neuschneefeldern, steil in die Höhe ragende Felstürme gegen den strahlend blauen Sonnenhimmel, ein überwältigender Anblick. Nach einer übermütigen Schneeballschlacht auf der Paßhöhe geht es auf atemberaubenden Serpentinen zu Tal, auf der unser Fahrer, Herr Stahl, sein ganzes Können unter Beweis stellen muß.

Nach einem Mittagsstop mit Lunchpaketen im »Tal der Fledermäuse« fängt es dann leider wieder an zu schneien und zu regnen. Kurzer Aufent

halt auf der Rückreise dann im Dorf Longarone, aus dem die bekanntesten und besten Eiskonditoren Italiens kommen sollen. Ein Besuch einer Eisdiele mit herrlichem Speiseeis kann das nur unterstreichen. Traurige Berühmtheit hat dieser Ort erlangt, als im Jahr 1963 ein 300 m über dem Dorf liegender Stausee durch einen Bergrutsch »überschwappte« und fast alle Häuser des Ortes mit sich fortriß. Über 300 Menschen sind damals bei dieser Naturkatastrophe ums Leben gekommen. Heute ist der Ort wieder vollständig aufgebaut und lediglich eine kleine eindrucksvolle Fotoausstellung in einer supermodernen Betonkirche erinnert an die schicksalsschweren Stunden.

Abends geht es in unserem Quartier hoch her. Combo + Chorprobe für die Auftritte in Venedig sind angesagt, die Dorfjugend hat sich zu uns gesetzt und geht ordentlich mit, als unsere Combo an zu jazzen und zu swingen fängt. Im Anschluß an die etwa einstündige Probe gibt dann Commandatore Giovanni Galeazzi ein Abendessen zu Ehren des Passat Chores, mancher Toast wird auf die italienischdeutsche Freundschaft ausgebracht. Unseretwegen hat die Künstlergemeinschaft aus dem CadoreTal eine kleine Gemäldeausstellung in unserem Quartier arrangiert, diese Herzlichkeit und Freundlichkeit sind einfach nicht zu überbieten. Todmüde fallen die Sänger auch nach diesem anstrengenden Tag in die Betten.



Mittwoch, 30. 5.1984


Die Spannung im Chor wächst, soll es heute doch nach Venedig gehen. Winkend verabschiedet man sich von seinen italienischen Bergsteigerfreunden, und bei strahlendem Sonnenschein, der uns für den Rest der Fahrt nicht mehr verlassen sollte, geht es noch einmal durch die grandiose Bergwelt der Dolomiten, vorbei an Cortina d'Ampezzo, Richtung Venedig,

Von der Einfahrt nach Venedig sind wir doch ein wenig enttäuscht: Erdölraffinerien, Fabriken, Staub und Dreck, so präsentiert sich Venedigs Vorort Mestre. Aber dann taucht im Dunst auf, am Ende eines langen Dammes durch die Lagune, Venedig, die »Herrscherin der Meere«. Auf dem »Piazzale Roma« müssen wir unseren Bus verabschieden, das Gepäck wird ausgeladen und auf einem Gepäcktransportboot (nach längerem Feilschen um die Kosten von Zahlmeister Hermann Willigerod) verladen. Wir selbst steigen auf ein »Vaporetto«, ein Linienboot, vergleichbar unseren Linienbussen, und begeben uns auf dem Wasserwege zu unserem Quartier, der Albergo Bartolomeo, in unmittelbarer Nähe der RialtoBrücke.

Wir sind sofort von dem Charme Venedigs gefangen, die Fahrt auf dem Canale Grande, sozusagen der Haupt(Wasser)straße Venedigs, stimmt uns auf die nächsten 3½ Tage ein. Mit dem Quartier haben wir auch einen Volltreffer gezogen, zentral und günstig gelegen, alles Sehenswerte ist von dort in kurzer Zeit zu erreichen. Beinahe hätte ich sie vergessen, unsere vier Studenten, die von der DeutschItalienischen Kulturgesellschaft für uns abgestellt, den Chor für die nächsten Tage begleiten sollen: die etwas zurückhaltende Irma, die vor Temperament überschäumende Antonella, die quirlige Alessandra und der überlegene Luigi. Diese vier erweisen sich als Glücksfall für uns und ich glaube, selten ist dem Besucher beim ersten Kennenlernen der »Herrscherin der Meere« in so kurzer Zeit so viel über das Wesen einer Stadt vermittelt worden.

Nach dem Mittagessen in einem »Ristorante« am Canale Grande geht es zur ersten Entdeckungsreise los: Plazza San Marco (Markusplatz) mit der San Marco Basilika, der Dogenpalast, der Uhrenturm mit den Hämmer schwingenden Mohren, der Campanile, die Piazetta. Dann Überfahrt mit der Fähre auf die Insel San Giorgio mit Auffahrt auf die Aussichtsplattform der Kirche mit wundervollem Blick auf die Sehenswürdigkeiten Venedigs und das alles bei strahlendem Sonnenschein, wir sind von der Schönheit Venedigs sofort gefangen.

Nach der Rückfahrt dann kurzer Stadtbummel durch die verwinkelte Innenstadt Venedigs, mit ihren unzähligen Brücken und Kanälen, überraschenden Einblicken in verwunschene, verwilderte Gärten alter Palazzi und verwitterter Pracht vergangener Epochen. Ohne es zu wollen, beginnt man zu schwärmen und fühlt sich in vergangene Zeiten zurückversetzt, vermeint barocke Klänge von Vivaldi und Scarlatti zu vernehmen. Der Abend wird dann zu individuellen Streifzügen durch die Stadt genutzt, ohne Ziel schlendert man durch die jetzt von Touristen verlassenen Straßen und läßt die Atmosphäre Venedigs auf sich wirken.

Das Wetter meint es wirklich gut mit uns, 23 Grad warm am Abend, da läßt sich das Leben bei einem Capuccino auf dem Markusplatz in einem der Straßencafes schon genießen. Tauben gurren, der Stehgeiger nebenan im Café läßt die Herzen der Hochzeitsreisenden bei Klängen von Vivaldi schmelzen, nur die vom Kellner verlangte, nach deutschem Geld etwa 8,50 DM kostende Tasse Kaffee holt einen dann unwirsch in die Gegenwart zurück.

Ins Hotel zurückgekehrt, sitzt ein Teil der Mannschaft vor der »Glotze« und verfolgt zusammen mit dem italienischen Hausherrn und seinen Söhnen das Endspiel um den FußballEuropaPokal: AS Rom gegen eine englische Mannschaft. Lautstark unterstützen die Italiener ihre Mannschaft vom Bildschirm aus und sterben tausend Tode, als AS Rom im Elfmeterschießen gegen die Engländer verliert.



Donnerstag, 31. 5. 1984


Morgens um 9.00 Uhr Start zum ganztägigen Rundgang. Unter der Führung unserer Studenten teilt sich der Chor in drei Gruppen, um den verschiedenen Interessen zu entsprechen: eine Gruppe macht sich auf, um den Dogenpalast, die Seufzerbrücke, Campanile etc. zu erkunden; die zweite Abteilung wird sich einige Kirchen, den Gemüse, Obst und Fischmarkt vornehmen und eine dritte macht sich auf den weiten Weg zum alten jüdischen Ghetto und den darum liegenden prachtvollen Kirchen.

Voller Eindrücke und fußmüde trifft man sich am frühen Nachmittag, um dann gemeinsam in Kluft zum Auftritt per Schiff zu fahren.

Auf dem Canale Grande geht es vorbei an alten Palästen, und wir als gesittete Deutsche wundern uns nur noch, daß bei diesem chaotischen Verkehr auf den Kanälen nichts passiert. Die Vorfahrtsregeln werden permanent mißachtet; es herrscht ein Gewühl wie in Paris auf dem Place Charles de Gaulle am Triumphbogen, aber wie durch ein Wunder passiert nichts, kurz vor dem Ramming wird ausgewichen und der Verkehrssünder mit einer Flut von Verwünschungen bedacht. Der gesamte Verkehr spielt sich auf dem Wasser ab; da es ja keine Straßen gibt, müssen sämtliche Transporte auf dem Wasserwege durchgeführt worden: Gondeln, hochbeladen mit Gemüse und anderen Waren, Gepäckboote, Krankentransporte und sogar Leichenzüge sind auf dem Wasser zu sehen.

Vorbei an der Friedhofsinsel San Michele nähern wir uns dem Ziel der Bootsfahrt, der Marineakademie Collegio Navale »F. Morosini«, vor dessen 140 Kadetten und Offizieren wir auftreten werden. Stramm im Gleichschritt marschieren die zukünftigen Admiräle auf und lauschen diszipliniert dem Vortrag des Passat Chores. Nur bei dem »Santa Lucia« kommen sie aus sich heraus und singen mit. Beim anschließenden Empfang des Kommandanten für den Chor tauen die Kadetten ein wenig auf, und es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch auf Englisch.

Der Abend steht dann nach der Rückkehr wieder zur freien Verfügung und fast jeder macht sich noch einmal auf den Weg, um auf eigene Faust noch einmal Venedig zu erkunden



Freitag, 1. 6. 1984


Nach dem gemeinsamen Frühstück, dürftig wie in Frankreich, in einem winzig kleinen Raum, in dem nur in Etappen gegessen werden kann, geht es zu einem weiteren Höhepunkt unserer Chorfahrt, einem Konzert auf dem Markusplatz. Schon beim Einsingen um 9.00 Uhr auf der Piazetta vor dem Dogenpalast versammelt sich eine riesige Menschenmenge um uns und singt begeistert die drei italienischen Volkslieder mit.

Um 10 Uhr trifft dann mit einem großen Fährschiff der österreichische „Sonnenzug '84“ ein, 300 schwerbehinderte Österreicher, die sich in Rollstühlen und auf Tragen im »Sonnenzug« mit vielen Helfern aus dem fernen Wien auf den Weg gemacht haben, um einmal Venedig zu erleben.

Das anschließende Konzert vor den Reisenden des »Sonnenzuges«, dem Bischof von Venedig als Schirmherren und einem unzählbaren Konzertauditorium von anwesenden Venedigtouristen ist für die meisten von uns der Höhepunkt der Venedigfahrt.

Danach heißt es schnell ins Hotel zurück, sich frisch machen und dann starten wir, um einen ganztägigen Schiffsausflug zur Glasbläserinsel Murano und zur Insel der Spitzenklöpplerinnen, Burano, zu machen. Die Sonne meint es wieder gut mit uns, beinahe zu heiß ist es, aber der laue Fahrtwind auf dem Schiff läßt diese Fahrt zu einem Erlebnis werden. In Murano wird erster Halt gemacht und das Schiff verlassen. Unser Weg führt uns in eine Glasbläserei, wo wir vor Ort, sprich vor dem glühendheißen Schmelzofen, die hohe Kunst der Glasbläserei bewundern können. Bei Temperaturen von 42 Grad beileibe keine Erfrischung und uns tun die armen Glasbläser leid, die in dieser Saunahitze ihre schwere Arbeit verrichten müssen.

Nach kurzem Gang durch die Ausstellung von mundgeblasenem Glas, alles sehr schön, aber doch etwas zu teuer und exklusiv für unseren schmalen Geldbeutel, geht die Reise per Schiff weiter durch die Lagune vor Venedig zur pittoresken Insel der Klöpplerinnen, namens Burano. An Land empfängt uns eine Reihe von Verkaufsständen, an denen die Produkte der italienischen Klöppelkunst und Stickerei den Touristen angeboten werden. Hübsche kleine Häuserreihen erstrecken sich entlang den Kanälen, jedes Haus in einer anderen Pastellfarbe, Schmuckstück und Attraktion für jeden Touristen. Blende 11, 1/125, die Einheimischen lassen alles geduldig über sich ergehen. Wie sagten schon die alten Römer: Pecunia non olet (auf gut Deutsch: Geld stinkt nicht).

Auf den abschließenden Abend in einem wunderschönen Ristorante direkt neben unserem Hotel freut sich dann wohl jeder. Italienische Spezialitäten stehen auf der Speisekarte, und wie sollte es anders sein, gibt es natürlich Fisch, superfrisch aus der Adria. Es wird ein feuchtfröhlicher Abend und voll des herrlichen Rotweines sanken dann die ermüdeten Krieger in ihre Kojen.



Sonnabend, 2. 6. 1984


Leider heißt es heute Abschied nehmen von Venedig und dementsprechend ist auch unsere Laune. Viel zu schnell sind die herrlichen Tage und Stunden wie im Rausch verflogen, und etwas mißmutig werden die Koffer gepackt.

Zum Abschied wird in dem schmalen Gäßchen vor dem Hotel ein Ständchen für den Patron des Hotels gegeben, und beim abschließenden »Santa Lucia« öffnen sich die umliegenden Fenster, und die Anwohner singen alle mit. Wäsche hängt zwischen den Häusern, hier guckt ein mit Rasierschaum bepinseltes Gesicht aus dem Fenster, dort wiegt singend eine hübsche Italienerin mit Glutaugen und pechschwarzen Haaren ihr Kind im Takt zu unserem Gesang. Venedig macht es uns schwer, Abschied zu nehmen.

Das Gepäckboot wird beladen und mit dem »vaporetto« macht der Chor sich zum letzten Male auf den Weg, den Canale Grande entlang zum bereitstehenden Bus auf der Piazzale Roma.

Herzlicher Abschied wird von unseren vier Begleitern genommen, die wir während der herrlichen vier Tage in Venedig in unsere Herzen geschlossen haben und die uns Venedig, seine Kultur und seine Menschen ein Stück näher gebracht haben. Wehmütig geht der Blick zurück, als der Bus startet, und die Silhouette Venedigs mit dem herausragenden Campanile am Horizont immer kleiner wird und schließlich im Dunst verschwindet.

Ein kleiner Höhepunkt der Reise steht noch bevor, und mit der Rückfahrt entlang am Gardasee zeigt sich Italien noch einmal im Sonnenschein von seiner »Zuckerseite«. Palmen, Rosen und Blütensträucher in üppiger verschwenderischer, beinahe subtropischer Pracht entfalten ihren ganzen Zauber und lassen uns den Abschied von Venedig ein wenig vergessen.

Nach all diesen beeindruckenden Erlebnissen kann die Rückreise dann nur noch ein Abhaken von Pflichtübungen sein. Nach einer Zwischenübernachtung in der Nähe von München ist noch zu vermelden, daß die gesamte Crew heil und wohlbehalten am Sonntagabend, dem 3. 6. 1984, in Lübeck und Travemünde eingetroffen ist.



Arrivederci Venezia, Auf Wiedersehen Venedig!